Walter Thurnherr: «Geopolitische Entwicklungen sind keine meteorologischen Phänomene»
Bei der exklusiven Ringier-Lesung zu «Wie der Bundesrat die Schweiz regiert» führte Walter Thurnherr mitten hinein in den Maschinenraum helvetischer Macht – dorthin, wo «geopolitische Entwicklungen keine meteorologischen Phänomene» sind und Medienmitteilungen politische Relevanz besitzen.
Es war einer dieser seltenen Abende, an denen Politik, Medien und Kultur nicht nur nebeneinander stehen, sondern miteinander in Resonanz gehen. Ringier-CEO Marc Walder eröffnete die Lesung, die intime Gästeliste reichte von bekannten Stimmen aus Politik, Wirtschaft und Sport bis zu Medienpersönlichkeiten.
Walter Thurnherr – acht Jahre Bundeskanzler, davor Diplomat, Generalsekretär in mehreren Departementen, und Autor – las aus seinem neuen Buch, erschienen im Kein & Aber Verlag. Aus aktuellem Anlass wählte er die Einleitung des Kapitels zur Aussenpolitik. Ein Text, der gleichzeitig historisch geerdet, analytisch klar und literarisch geschliffen ist. Nach der Lesung folgte ein vertiefender Talk mit Reza Rafi, Chefredaktor des SonntagsBlick.
«Alles in allem schien es, als hätte die offizielle Schweiz eine Pause eingelegt»
Gleich zu Beginn seiner Lesung führte Thurnherr sein Publikum zurück ins Jahr 1998 – eine Schweiz im Festmodus, selbstbewusst, stolz, orientiert an historischen Jahrestagen. Er las über damalige Selbstsicherheit und anschliessende Erschütterungen: vom Vergleich der Schweizer Banken mit der World Jewish Restitution Organization bis zu den gegroundeten Swissair-Flugzeugen, von 9/11 bis zur Massentötung von 1,5 Millionen Hühnern in Hongkong. Es war die Grundlage für eine zentrale These des Autors: Zeitenwenden sind keine Ausnahme, sondern der Normalzustand.
Thurnherr formuliert es im Buch so präzise, wie man es sonst nur aus staatspolitischen Analysen kennt:
«Die geopolitischen Entwicklungen sind aber keine meteorologischen Phänomene. Sie haben menschliche Ursachen und kündigen sich an.»
Ein Autor mit Blick für Mechanismen – und für Sprache
Was an diesem Abend sofort greifbar wurde: Thurnherr ist ein politischer Autor mit literarischer Präzision. Seine Sprache ist klar, gelegentlich ironisch, immer feinsinnig strukturiert. Der ehemalige Kanzler kennt nicht nur das «Was», sondern auch das «Wie» der politischen Entscheidungsfindung.
Humor und Schärfe sind Teil seines Stils – etwa, wenn er über neutralitätspolitische Reitmetaphern spricht:
«In der Aussenpolitik ist es noch komplizierter. Da reiten viele mit verkehrtem Kopf, aber mit Absicht.»
Innenansichten aus dem Maschinenraum der Schweizer Politik
Der anschliessende Talk mit Reza Rafi führte das Publikum noch tiefer in Thurnherrs Erfahrungsschatz hinein.
Er beschrieb das berühmte Mitberichtsverfahren als «geniales Verfahren», das auf kollektive Intelligenz basiert:
«Sieben Leute bringen bessere Entscheidungen zustande als eine.»
Er erläuterte, wie der Bundesrat in Krisen funktioniert – und wo seine Schwächen liegen: beim Vorausdenken. Sein Credo:
«Im Vorausschauen gibt es Luft nach oben.»
Und er erklärte, wie stark sich die Medienrealität verändert hat – von Tschernobyl bis Fukushima:
«Die Erwartungen an die Öffentlichkeitsarbeit des Bundesrates haben sich fundamental geändert.»
Gerade für die Medien- und Kommunikationsbranche heikel und spannend zugleich: Medienauftritte, Sprachregelungen und Medienmitteilungen sind heute nicht mehr blosse Vollzugsinstrumente nach aussen, sondern integraler Teil der Regierungstätigkeit. Sie werden vorbereitet, abgestimmt – und, wie Thurnherr schildert, in der Bundesratssitzung explizit mitgedacht. Wo der Bundesrat nach Tschernobyl noch darüber diskutierte, ob er überhaupt etwas sagen solle, laufen im Zeitalter von Fukushima und Live-Ticker-PKs Kommunikationsmassnahmen faktisch im Krisenmodus mit.
Ein U-Bahn-Moment im Trump Tower – und ein Satz, der die Schweiz erklärt
Bemerkenswert auch, was ein spontanes Kurzinterview zutage fördern kann. m&k stellte ein Gedankenexperiment:
Wie würde er Donald Trump – bei einer zufälligen Liftfahrt im Trump Tower – erklären, wie die Schweiz regiert wird?
Seine Antwort kam ohne Zögern, trocken, präzise und beinahe literarisch knapp:
«Die Schweiz konsultiert jeden Entscheid 100 Mal, bezieht alle Leute ein und filtert die gröbsten Fehler aus. Das ist ein sehr guter Mechanismus.»
Ein Satz wie ein Destillat – und ein ideales Gegenstück zur politischen Körperlichkeit des aktuellen US-Präsidenten. Der kurze Austausch führte direkt zur Frage nach dem Buchtitel – und seinem entscheidenden «trotzdem»:
Warum „trotzdem“?
Thurnherr erklärte, dass die Schweiz formal zwar eine Regierung mit vergleichsweise geringer juristischer Macht habe – das Parlament dominiert, der Föderalismus verzweigt die Kompetenzen –, der Bundesrat aber politisch über enorme Gestaltungskraft verfüge. Die Regierung sei immer an allen Entscheidungen beteiligt, und genau dieses kollektive Mitdenken mache das System so stabil.
Auf die Bitte nach einem Elevator Pitch für sein Buch sagte Thurnherr:
«Das ist das beste Buch über die Schweizer Regierung.»
Ein Satz, der mit einem Schmunzeln kam – und zugleich mit einer Wahrheit: Kaum jemand kennt den Maschinenraum der Macht so gut wie er. Damit wurde auch deutlich, wie Thurnherr sein Werk versteht: als präzise und zugleich menschliche Annäherung an ein politisches System, das durch Konsultation, Pragmatismus und Fehlerresistenz funktioniert – gerade in Zeiten, in denen globale Politik im Tempo von Tweets, Reels, Shorts, Brüchen und Launen operiert.
Wenn es brenzlig wird, offenbaren sich die Charaktere
Einer der stärksten Momente des Talks war Thurnherrs Beschreibung der Dynamik im Bundesrat:
«In dem Moment, wo es brenzlig wird, offenbaren sich einfach auch die Charaktere.»
Er sprach über isolierte Departementsvorstehende, über prägende Figuren, über Rücktritte aus Einsamkeit, aber auch über Humor im Gremium:
«Ich habe natürlich mit Doris Leuthard sehr viel gelacht. Das Leben ist zu kurz, um immer ernst zu bleiben.»
Skepsis, Klarheit und ein leiser Trost
Thurnherrs Buch – und dieser Abend – haben etwas Beruhigendes, ohne je verharmlosend zu sein. Er zeigt, dass Krisen Teil des Systems sind und dass Politik trotz aller Komplexität funktionieren kann, wenn es darauf ankommt:
«Das Zusammenspiel in der Krise funktioniert eigentlich erstaunlich gut.»
Und gleichzeitig erinnert er daran, wie wichtig Demut im Urteil bleibt:
«Man sollte sehr vorsichtig sein mit dem Urteil.»
Fazit: Ein Buch, das die Mechanik der Macht sichtbar macht
Walter Thurnherr hat ein Werk geschrieben, das deutlich über eine politische Erinnerung hinausgeht. Es ist Analyse, Geschichtsbogen, Einordnung – und ein Einblick in Denkprozesse, die man sonst nur hinter geschlossenen Türen erlebt. Die Ringier-Lesung zeigte, wie zugänglich, präzise und mitunter humorvoll er komplexe staatspolitische Mechanismen entfalten kann. Ein literarischer Blick in den Maschinenraum der Schweiz – mit dem Wissen und dem Zweifel eines Mannes, der zu den besten Beobachtern dieses Systems gehört.











