Digitale Souveränität
Matthias Stürmer ist renommierter Experte für digitale Souveränität. Er tritt am 25. CNO Panel vom 27. Oktober in diesem Jahr auf. Eine seiner wichtigsten Thesen ist, dass wir nicht auf Gedeih und Verderb abhängig sind von Tech-Konzernen, sondern mit Open-Source-Software Souveränität gewinnen können.

Herr Stürmer, Sie befassen sich mit dem Thema digitale Souveränität schon seit den 2000er-Jahren. Wie kam es dazu?
Matthias Stürmer: Nun, digitale Souveränität wird ja bekanntermassen mittels Open-Source-Technologien realisiert. Und mit diesem Thema Open-Source-Software befasse ich mich tatsächlich schon seit meinem Wirtschaftsinformatik-Studium an der Universität Bern zu Beginn der 2000er-Jahre. Ich ging 2003 erstmals an einen Linux-Tag in Deutschland und war sofort fasziniert von dieser engagierten Community, von den Top Informatik-Fachleuten, die sich mit Herzblut und riesigem Tech-Know-how ehrenamtlich für die Entwicklung des freien, damals noch nicht sehr Firmen-getriebenen Betriebssystems Linux und anderen Open-Source-Programmen widmeten.
Was verstehen Sie heute unter digitaler Souveränität?
Im Rahmen einer Studie zu digitaler Souveränität für das Schweizer Aussendepartement habe ich letztes Jahr über 200 wissenschaftliche Quellen analysiert. Dabei habe ich festgestellt, dass es sehr unterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen zum Thema gibt: Die einen sehen digitale Souveränität als abstrakte, theoretische Form der staatlichen Unabhängigkeit und haben grossartige juristische und historische Abhandlungen dazu verfasst. Ich hingegen schliesse mich dem Verständnis von digitaler Souveränität an, wie es auf dem Deutschen Digital Gipfel 2018 bekannt gemacht wurde. Diese verbreitete Definition versteht den Nutzen der digitalen Souveränität in der technologischen Autonomie eines Landes und dessen Verwaltungen und Unternehmen. Konkret sollen Organisationen Wahlmöglichkeiten bei den IT-Firmen haben, die ihre IT-Systeme betreiben und weiterentwickeln. Auch bedeutet digitale Souveränität, dass niemand ohne explizite Erlaubnis auf die Daten einer Organisation zugreifen kann.
Inwiefern ist das Thema in der Forschung und Lehre etabliert und welche Lücken sehen Sie?
Das Thema «digitale Souveränität» ist noch gar nicht in der Bildung angekommen, sonst hätten wir heute nicht diese grossen Herstellerabhängigkeiten. Auf CIO-Level herrscht immer noch das Paradigma «Nobody ever got fired for buying Microsoft». Darum sehe ich einen Bedarf bei Vorlesungen wie bspw. «requirements engineering» und bei IT-Beschaffungsweiterbildungen, dass «digitale Souveränität» als wichtige, nicht-funktionale Anforderung bei der Evaluation und Einführung von IT-Systemen konsequent berücksichtigt wird.
In der Forschung ist das Thema «vendor lock-in» und Pfadabhängigkeiten zwar schon seit den 1990er-Jahren bekannt, dennoch haben sich lange Zeit nur wenige Forschende mit diesem spannenden Thema beschäftigt. In der Informatik sind Abhängigkeiten geradezu allgegenwärtig: Bei jeder System-Einführung macht man sich über die Integration von Schnittstellen und Schulung der Mitarbeitenden abhängig von einer Softwarelösung. Diese Systemabhängigkeit ist aber gar nicht das Problem, sondern sogar das Ziel der Übung. Denn erst wenn eine Applikation gut integriert ist, mit bestehenden Systemen, können Daten sauber ausgetauscht werden und so das Once-Only-Prinzip erfüllen. Und erst wenn die Mitarbeitenden ein Programm gut kennen, können sie effizient damit arbeiten.
Das Problem ist die Abhängigkeit von den Herstellern. Sie entsteht, wenn es nur eine Firma gibt, die die Software aktualisieren und weiterentwickeln kann. Dann nämlich sind wir auf Gedeih und Verderb den Unternehmensinteressen ausgeliefert.
Gerade für die Schweiz ist Souveränität ein besonders wichtiger Bestandteil der Identität. Inwiefern ist digitale Souveränität in der öffentlichen Debatte ein Thema und inwiefern befasst sich die Politik damit?
Eigentlich ist die politische Forderung nicht neu, denn Jonas Fricker hatte schon 2017 die Interpellation «Digitale Souveränität der Schweizer Bundesverwaltung» eingereicht. Geschehen ist wenig bis gar nichts, und ich finde es erstaunlich, dass wir in der Schweiz erst jetzt ernsthaft in die Debatte einsteigen und uns Gedanken über mehr digitale Unabhängigkeit machen. Offenbar hat es einen Präsidenten Trump gebraucht, der die Schweiz aufgeschreckt hat. Immerhin hat die Politik nun reagiert. Dieses und letztes Jahr sind nun ein Dutzend Vorstösse von Links und Rechts eingereicht worden, die die Erhöhung der digitalen Souveränität und konkrete Massnahmen zur Umsetzung fordern. Jetzt sind der Bundesrat und die Bundesverwaltung gefordert.
Was sind die grössten Chancen und die grössten Herausforderungen auf dem Weg zu mehr digitaler Souveränität?
Die grösste Herausforderung ist die Reduktion des Vendor-Lock-In, aber auch die Verhinderung von neuen, zusätzlichen Herstellerabhängigkeiten. Wenn man überlegt, wie aufwändig beispielsweise die Einführung einer ERP-Lösung ist, wie viel Business-Logik in so einer Applikation steckt und wie stark eine Organisation ihre Prozesse entsprechend angepasst hat, so will man wohl nie mehr wieder weg davon. Hier muss die situative Abhängigkeit vorerst akzeptiert werden. Gefährlich wird es, wenn bei neuen Anforderungen aus Bequemlichkeit («Wir haben schon einen laufenden Vertrag.») oder falscher Investitionslogik («Wir haben eh schon so viel investiert.») zu weiteren Abhängigkeiten kommt.
Die Chancen der digitalen Souveränität sind langfristig zu sehen. Beispielsweise müssen von der öffentlichen Verwaltung seltener IT-Freihänder vollzogen werden, wenn auf offene Technologien gesetzt wird. Dann kann der Wettbewerb besser spielen. So entsteht Wahlmöglichkeit und die Kosten sinken. Eine weitere grosse Chance der digitalen Souveränität ist die Wertschöpfung, die durch lokale IT-Unternehmen erhöht werden kann.
Seit einigen Jahren boomt das Thema künstliche Intelligenz. Welche neuen Aspekte der digitalen Souveränität sind damit verbunden?
KI verändert garantiert vieles in unserer Gesellschaft und Arbeitswelt, dieser Trend geht nie mehr weg. Wir werden in den nächsten Jahren noch grosse Fortschritte sehen, insbesondere bei Agenten-basierten KI-Systemen und bei der Verbreitung neuer KI-Modelle. Interessanterweise sehe ich hier viele Parallelen zur Entwicklung der Software-Branche vor 20 Jahren: So gibt es auch in der neuen Welt der Large Language Models (LLM) eine heisse Diskussion und parallele Trends bezüglich proprietärer versus offener KI-Varianten. Millionen von Machine-Learning-Modellen sind heute schon frei auf Hugging Face vorhanden und stellen die Basis für die vielen Innovationen dar. Auch hier kann der so genannte «Open Source AI»-Ansatz verfolgt werden.
Bei KI kommt noch hinzu, dass es entscheidend ist, wie die LLMs trainiert wurden, also auf welchen Daten sie basieren und welche Anpassungen («Alignment» oder «Fine-Tuning») vorgenommen wurden. Wir wollen keine KI-Plattformen, die Firmeninteressen oder politische Positionen anderer Staaten abbilden, sondern wir wollen objektive Chatbots ohne Verzerrungen («Bias»).
Inwiefern haben Schweizer Firmen und Verwaltungen überhaupt eine Chance, digitale Souveränität für sich zu schaffen respektive zu wahren?
Es ist ein Mythos zu glauben, dass der Staat und Schweizer Firmen auf immer und ewig abhängig sind von ausländischen Tech-Konzernen. Wir können Cloud-Plattformen, Software-Anwendungen und auch KI-Modelle basierend auf Open-Source-Technologien sehr wohl selber aufbauen und betreiben. Mit dem im Juli 2025 gegründeten «Netzwerk SDS – Souveräne Digitale Schweiz» sehen wir Dutzende von Schweizer Firmen, die Cloud-Services für Behörden und die Schweizer Wirtschaft anbieten. Auf dem Verzeichnis «OSS Directory» gibt es hunderte von Open-Source-Produkten und viele kompetente Anbieter, die helfen können, digital souveräne Lösungen zu implementieren. Und im Bereich der KI haben unsere Top-Hochschulen ETH Zürich und EPF Lausanne zusammen mit dem Supercomputing Center CSCS in Lugano ein modernes, komplett transparentes Open-Source-Large-Language-Model entwickelt. Dies zeigt klar, dass wir durchaus in der Lage sind, digitale Souveränität umzusetzen. Oftmals fehlt es einfach an Sichtbarkeit, an Vernetzung und an Vertrauen, dass wir es können. Darum wollen wir mit dem Netzwerk SDS und dem OSS Directory hier mehr Visibilität für digital souveräne Lösungen von mutigen Organisationen schaffen.
Wir haben in der Schweiz das Glück, Forschung und Lehre an vorderster Front mitzugestalten. Was wünschen Sie sich und unserer Gesellschaft für die nächsten Jahre?
Die Schweiz hat ideale Voraussetzungen: Hohes Bildungsniveau mit weltweit renommierten Hochschulen, top IT-Infrastrukturen mit zahlreichen Rechenzentren und einem einmaligen KI-Supercomputer im Tessin, eine stabile Stromversorgung, eine hohe politische Kontinuität, kaum Schulden, eine starke Währung und ein hervorragendes Image im Ausland für Sicherheit und Zuverlässigkeit. Jetzt müssen wir nachholen, wo andere Länder noch besser sind: Wir brauchen mehr Mut und mehr Zusammenarbeit.
Autor
Pascal Sieber ist Transformation Consultant und Verwaltungsratspräsident von Sieber & Partners. Er ist Gründer und Veranstalter des jährlich durchgeführten CNO Panel. www.sieberpartners.com/cno-panel-aktuell